Migrationsgeschichte in Europa


Geschichten über Fremdheit und Zugehörigkeit


Migration gab es in Europa schon immer: Handwerker, Ärzte, Pastoren, Lehrer und später auch Fabriksarbeiter wanderten umher, überwanden Grenzen und suchten nach Zugehörigkeit an fremden Orten.
Levke Harders ist Historikerin und Professorin für Geschlechtergeschichte. Als solche erforscht sie die Migrationsgeschichte in Europa im frühen 19. Jhdt. und im Greenhorn Science Podcast spricht sie über die Begriffe "Fremdheit" und "Zugehörigkeit".

Grenzen waren nicht immer klare Linien

Wer im frühen 19. Jhdt. in Europa von A nach B wollte, musste viel häufiger Grenzen überwinden als heute. Und dabei waren die Grenzen meist auch nicht so klare Linien, wie sie das heute sind: Viel eher muss man von Grenzregionen sprechen, also ganze Landstriche, in denen eine Verwaltungszone (z.B. ein Königreich) in die nächste Verwaltungszone über ging.

Migration bedeutete zu dieser Zeit noch nicht, in einem überfüllten Boot über das Mittelmeer zu fahren. Die Menschen mussten zu Fuß, mit der Kutsche oder später mit der Dampfeisenbahn reisen. Oft betrugen die zurückgelegten Strecken nur 20 bis 30 Kilometer – und doch waren die Menschen in ihrem neuen zu Hause erst mal Fremde.

Im 19. Jhdt. passierten in Europa große gesellschaftliche und politische Veränderungen, ausgehend von der französischen Revolution. Im Zuge der „Modernisierung“ kam es zu umfassenden Migrationsbewegungen. Diese lassen sich besonders gut in den oben erwähnten Grenzregionen untersuchen. Levke Harders beschäftigt sich in ihrer Forschung beispielhaft mit zwei solchen Grenzregionen, nämlich mit Schleswig-Holstein und mit dem Elsass.

Fremdheit und Zugehörigkeit

Nachdem die Menschen früher auch schon bei kleinräumiger Migration oft mehrere Grenzen überwinden mussten, waren die Migrierenden in ihrer neuen Heimat erst mal Fremde. Damals wie heute war und sind Fremdheit und Zugehörigkeit nach Auffassung der Historikerin Levke Harders keine Naturkonstanten, sondern es handelt sich um einen Aushandlungsprozess von Politik und Gesellschaft, in dem darüber bestimmt wird, ob eine Person als fremd oder zugehörig angesehen wird.
Fremdheit und Zugehörigkeit hingen früher nicht unbedingt mit einer Staatsbürgerschaft zusammen (diese wurde im 19. Jhdt. erst nach und nach eingeführt - siehe unten), sondern sie ergaben sich eher aus der Zugehörigkeit zu einer gewissen Zunft, Klasse oder dem Beherrschen der örtlichen Sprache.

Aktenstapel aus dem 19. Jahrhundert

Frauen als anonyme Anhängsel der Ehemänner

Ein wesentlicher Faktor, der im Europa des frühen 19. Jhdts. über die Zugehörigkeit einer Person bestimmte, war das Geschlecht: Frauen wurden beispielsweise in der Verwaltung, auf Dokumenten und Urkunden, oft nicht namentlich genannt. Sie wurden als Anhängsel des Ehemannes betrachtet oder es wurden mehrere Frauen am Papier als Gruppe behandelt.

Allerdings hing die Behandlung der Frauen auch stark von ihrer gesellschaftlichen Klasse ab: Bürgerliche aus der oberen Mittel- und Oberschicht wurden anders behandelt als Arbeiterinnen aus der Unterschicht.

Abbildung 1: Aktenstapel aus dem 19. Jhdt. Levke Harders.

Einführung der Staatsbürgerschaft in Europa

Mit der Entwicklung der Nationalstaaten nach der französischen Revolution entstand in Europa auch das Konzept der Staatsbürgerschaft. Das erste Staatsbürgerschaftsgesetz wurde in Europa 1776 (also bereits 13 Jahre vor der französischen Revolution) im Dänischen Königreich eingeführt.

Staaten wollten nicht mehr nur ein Gebiet verwalten, sondern durch die Staatsbürgerschaft ihren Bürgern (auch hier in erster Linie den Männern!) gewisse Rechte und Pflichten zusichern. Gleichzeitig erfolgte somit jedoch auch die Ausgrenzung anderer Gruppen, die eben nicht als Staatsbürger anerkannt wurden (so z.B. Frauen). Die Staatsbürgerschaft fungierte somit als Instrument für Ausgrenzung und Rassismus.

Lokale Zugehörigkeit war jedoch auch weiterhin ohne Staatsangehörigkeit möglich: So gab es als Vorläufer der Staatsbürgerschaft das sog. „Heimatrecht“ und Handwerker konnten beispielsweise zu ihrer Zunft zugehörig sein oder als Gesellen mit einem Wanderbuch reisen. 

Staubiger Schriftverkehr aus dem frühen 19. Jahrhundert

Wie wird die Migrationsgeschichte Europas erforscht?

Um an Informationen über frühere Migrationsbewegungen und Einbürgerungsverfahren zu kommen, begibt sich die Historikerin in Archive, in denen alte, verstaubte, brüchige Dokumente aufbewahrt werden. Mit Hilfe der Archivar*innen, also der Menschen, die das Archiv betreuen, sucht Levke Harders nach Schriftstücken, auf denen Geschichten und persönliche Daten von Migrierenden im frühen 19. Jhdt. vermerkt sind.
Dazu muss sie sich in die damaligen Verwaltungsstrukturen einfühlen: Wie haben die Beamten damals gedacht und gearbeitet? Wo und wie könnten die Dokumente abgelegt und verwahrt worden sein?

Die gefundenen Unterlagen werden von der Wissenschaftlerin oft eingescannt oder fotografiert, am Computer abgeschrieben und alle Daten werden in eine umfangreiche Datenbank eingespielt, um später statistische oder inhaltliche Auswertungen vorzunehmen.

Abbildung 2: Akten aus dem Landesarchiv Schleswig-Holstein. Levke Harders.

Links

Erfahre mehr zum Thema in Levke Harders´ Blog >> Migration and Belonging.
Ein weiterer Blog, der in der Podcast-Folge erwähnt wird, ist der >> Div:Inn Blog.
Levke Harders ist auch bei Instagram: @gender.inn

Bildnachweise

Titelbild: lizenzfrei / pixabay

Abbildung 1: Archives départementales du Haut-Rhin, Colmar (Foto: Levke Harders, 2016) CC BY-NC-SA 4.0 DE 

Abbildung 2: Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig (Foto: Levke Harders,
2021) CC BY-NC-SA 4.0 DE

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